January 15, 2015

15/01 WARUM EIN HASHTAG NICHT GENUG IST

Alle sind #charlie und alle vergessen dabei worum es wirklich geht. Ich weiß, dass ich über sowas eigentlich nicht blogge, vielleicht interessiert es euch auch nicht, weil es halt keine Reisefotos oder Musiktipps sind aber es ist nunmal so, dass ich doch immerhin ein paar hundert Leser erreiche und etwas loswerden möchte und vor allem, weil ich einfach nicht mehr auf eine so oberflächliche Art und Weise bloggen möchte wie bisher.

Durch die erschreckende Geiselnahme in Sydney im Dezember habe ich als erstes durch Instagram erfahren, auf meinem Feed waren plötzlich mehrere Bilder mit dem Hashtag #prayforsydney zu sehen und ein paar Sekunden später klickte ich mich auch schon durch tagesschau.de. Es gab Liveticker, es gab Videos, alles online, alles abrufbar, detailliert und bebildert, damit man eben schnell über das wichtigste Bescheid wusste und egal in welches Netzwerke ich mich einloggte, überall #prayforsydney. Ein Tag nach der Geiselnahme wurden in Pakistan über 120 Kinder von Terroristen erschossen. In den sozialen Netzwerken gab es kaum etwas über den Terroranschlag zu lesen.

Einige Wochen später sind mehr als drei Millionen Menschen #charlie und beweisen durch einen Trauermarsch Solidarität und Zusammenhalt nach einem Attentat auf französische Journalisten. Das ist das beste, was in einer solchen Situation passieren kann, das gibt Hoffnung und stärkt. Aber: wie viele dieser Millionen von Menschen wissen von 2000 Toten in der kleinen Stadt Baga in Nigeria, die durch die islamistische Terrormiliz Boko Haram kurze Zeit nach dem Attentat in Paris verbrannt wurden? Wie kann es sein, dass in der ganzen Welt in völliger Ausnahmezustand herrscht und soziale Netzwerke kollabieren, und dies NICHT auf Grund von 125 in einer Schule erschossenen Kindern und 2000 verbrannten Afrikanern? Dass da Dinge irgendwo zwischen Sydney und Paris passieren, die grausam, erschreckend und unerklärlich sind und man tatsächlich googlen, recherchieren, muss, um detaillierte Informationen darüber zu bekommen?

Irgendwas läuft hier falsch und das schon viel zu lange. Ich kann da nichts dran ändern und werde es vielleicht auch niemals können. Aber ich will daran erinnern, dass es manchmal nicht reicht, seinen Instagram oder Twitter Feed durchzuscrollen und dabei zu denken, man protestiere jetzt ganz stark mit und sei ganz nah dabei, obwohl man über den Liveticker und ein paar dramatische Fotos nicht hinauskommt. Wir können nicht mit Hashtags die Welt verbessern aber wir sollten anfangen, uns mal zu informieren, was da eigentlich wirklich vorgeht anstatt uns immer vorzumachen, ein mit Hashtag versehenes Foto würde viel verändern. Und vor allem uns nicht mehr nur mit ein paar Schlagzeilen   und Fotostrecken aus Europa zufrieden geben.  Da passiert leider noch so viel mehr!

So und weil ich einfach noch ein bisschen üben muss freie Texte zu schreiben und es mir wirklich nicht leicht fällt hier noch zwei andere lesenswerte Artikel zu dem Thema: Horst und Brodt & The Guardian!

10 comments:

  1. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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  2. Anonymous15/1/15 13:35

    so gut geschrieben !!!

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  3. Du sprichst mir aus der Seele - vor allem hab ich mich auch nach einem Text von Visa Vie gefragt - wer ist von den ganzen Menschen wirklich #charlie? Wer würde sich trauen, den Mund aufzumachen, wenn es drauf ankommt?

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  4. Word.
    Du hast gerade das in Worte gefasst, was ich mir Tag für Tag denke. Klar, jeder Tote, der auf so eine Weise stirbt, ist einer zu viel & es ist soo krass was dort passiert ist - aber von den 125 Kindern & den über 2000 Toten hab' ich durch Tumblr erferfahren. Durch fucking Tumblr. In den Nachrichten kein Wort. Das ist so ekelhaft. Nach 9/11 war die gesamte Welt geschockt & in Trauer. 3000 Tote waren das damals. Wo ist der Unterschied zu 2000 Toten, ebenfalls durch Terror? Ich versteh's einfach nicht. Und das kotzt mich so dermaßen an. Also danke, dass du das so gut in Worte gefasst & angesprochen hast.

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  5. Danke Clara, genau das habe ich mir die letzten Tage gedacht und wusste einfach nicht, wie genau man das Thema ansprechen soll. Es ist so ein schmaler Grat. Natürlich ist die Anteilnahme an den Geschehenissen in Paris überwältigend, und es bringt nichts, Leid gegeneinander abzuwägen, aber ich hab doch sehr lange darüber nachgedacht, wie diese unglaubiche Diskrepanz zwischen der Rezeption von Charlie und des Massakers in Nigeria zustandekommen kann - Sowohl in sozialen Netzwerken, aber auch in den herkömmlichen Medien, wo Charlie ganze Titelseiten füllte und Nigeria an der Seite mit einer Kurznachricht von zehn Sätzen erwähnt wurde. Es gibt viele Dinge, die nur sehr schwer zu verstehen und zu bewerten sind und diese Angelegenheit gehört da auf jeden Fall dazu.

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  6. Das ist gut, dass du über so etwas schreibst und nachdenkst!
    Und du hast furchtbar recht damit.
    Es ist nur so: Diese Welt ist häufig ungerecht und weißt du, warum Paris innerhalb von wenigen Stunden fast alle Menschen Europas erreichte und das Verbrechen in Afrika nicht? Weil das in Paris unsere Demokratie gefährdet, genauer unsere Presse- und Meinungsfreiheit. Es könnte zu Angst führen, vorsichtiger zu sein und nicht mehr alles frei zu publizieren. Dann wären wir - das Volk - unzureichend oder gar nicht informiert und wie sollten wir dann entscheiden, unseren Anteil am Staat und an der Politik haben mit Wahlen, Volksentscheiden und vielem mehr? Die Demokratie mit ihrem Grundsatz der Macht des Volkes würde ins Wanken geraten. Deswegen wird das Verbrechen um Charlie Hebdo so groß publiziert.
    Das Massaker in Afrika jedoch hat sehr wenig mit unserer Demokratie zu tun. Der Anteil, den wir daran haben ist nicht so groß, wie der an Paris.
    Hinzu kommt, das ähnliches auch in Deutschland, in Berlin, drei Straßen entfernt von meiner Wohnung entfernt (das klingt jetzt sehr egozentrisch aber ich wohne sehr nah an Standpunkten wichtiger Tageszeitungen) passieren könnte. Das erhöht die Anteilnahme noch mehr. Das in Nigeria ist weit weg, nicht in einem nahen Land, nicht auf unserem Kontinent, ich möchte behaupten, viele könnten Nigeria nicht einmal auf einer Landkarte korrekt einzeichnen. Da ist die emotionale Ebene nicht so sehr beansprucht, es gibt weniger Identifikationspunkte.
    Das alles sind Gründe, warum das Verbrechen um Charlie Hebdo fast hysterisch verfolgt wird.
    Ob das gerechtfertigt ist, das steht in Frage. Wenn man aber aufmerksam Nachrichten ließt, täglich sich die Tagesschau anguckt und mit etwas offeneren Augen durch die Welt geht, kriegt man schon mehr mit als diese Internethashtags.
    Das sind alles nur Gedanken meinerseits und ich finde es sehr gut, dass du mit deinem Post anregst, sich einen Kopf um solche Dinge zu machen.
    Und noch ein kleiner Tipp, ich habe sehr viele Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen auf facebook geliket. Wenn man dann täglich auf seiner Startseite herumscrollt, kriegt man schon sehr viel mit. Dazu die Spiegelapp und die Tagesschau täglich gucken und man hat schon einmal einen guten Grundbaustein.
    Bitte schreibe mehr, ich finde das gut!
    Lori

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  7. Genau diese Gedanken habe ich mir auch in den letzten Tagen gemacht... Man wagt es ja fast gar nicht zu sagen, dass das Attentat in Paris "nicht so schlimm" war wie viele andere Dinge, die auf der Welt passieren. Und ich weiß nicht, ob man die ganze Anteilnahme, vor allem im Internet, nicht vielleicht schon übertrieben nennen kann. Das ist gewagt, aber manchmal frag man sich wirklich, ob all die Menschen, die "Charlie sind" überhaupt Ahnung haben, oder ob sie es einfach nur sind, weil alle anderen auch "Charlie sind"...
    Ein anderes Thema. Ich finde der Text ist der sehr gut gelungen und du solltest sowas ruhig öfter schreiben!

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  8. Endlich spricht jemand das aus, was ich schon seit langem denke. Ich hätte es wohl nicht so gut hinbekommen, es in Worte zu fassen!

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  9. Egal wie sehr ich Mode und auch Modeblogs liebe - es ist so gut mal wieder so etwas zu lesen. Und es ist sehr richtig was du da schreibst, weshalb ich es einfach wichtig finde, dass man sich regelmäßig selbst informiert, was auf der Welt vor sich geht und nicht nur plötzlich ganz politisch ist, wenn eine Nachricht in allen Medien präsent ist.

    Sehr schöner Text!

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